Navid Kermani
Rede bei der Trauerkundgebung für die Opfer der Pariser Anschläge auf dem Kölner
Appellhofplatz, 14. Januar 2015
Auszug:
Liebe Mitbürger, liebe Freunde,
heute vor einer Woche sind in Paris zwölf Menschen ermordet worden, nur weil sie ihr Recht
auf freie Meinungsäußerung in Anspruch nahmen. Zwei Menschen sind ermordet worden, nur
weil sie Polizisten waren, gewöhnliche Streifenpolizisten, die ihren Dienst taten. Einen Tag
später sind vier Menschen ermordet worden, nur weil sie – der Attentäter hat es selbst am
Telefon wörtlich so erklärt – nur weil sie Juden waren. Das geschah mitten in Europa, im
Zentrum der französischen Hauptstadt, unweit der Bastille, wo die Bürger 1789 auf die
Barrikaden gingen, damit nicht mehr ein einzelner Despot, sondern Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit herrschen. Diese Revolution war es, die am Anfang auch unserer Freiheit steht.
Es hat Jahre, Jahrzehnte, ja fast zwei Jahrhunderte gedauert – Europa, ja Frankreich selbst ist
Umwege und fürchterliche Irrwege gegangen -, bis endlich die Menschen ungeachtet ihres
Geschlechts, ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung die gleichen Rechte
– nein, ich will nicht sagen: die gleichen Rechte genießen, denn verwirklicht ist Europa noch
nicht, aber doch die gleichen Rechte beanspruchen und für sie eintretenkönnen. Allein,
Freiheit und Gleichheit sind noch nicht das ganze Erbe der französischen Revolution. Die
letzten Tage haben uns daran erinnert, daß wir bei allen politischen Rechten und gesetzlichen
Regeln immer auch das Moment der Brüderlichkeit im Blick haben müssen, der Empathie,
des Einstehens für den Schwächeren, der Gastfreundschaft gegenüber dem Fremden, der
Solidarität mit dem Verfolgten. Das war der entscheidende zivilisatorische Durchbruch, der
1789 sicher noch nicht gelungen, aber doch begonnen wurde, die Übertragung des biblischen
Gebotes der Nächstenliebe auf die gesellschaftliche Wirklichkeit: Nicht wir Franzosen und
wir Deutschen, nicht wir Weißen über den Schwarzen, nicht wir Einheimischen über den
Fremden, nicht die Männer über den Frauen, nicht wir Adligen und wir Bürger, nicht wir
Kapitalisten und wir Arbeiter, nicht wir Christen, wir Juden und wir Muslime, nicht wir
Europäer, wir Asiaten und wir Afrikaner – nein, wir Menschen.
Die Terroristen wollen einen Keil zwischen uns treiben, sie wollen uns in eine Entscheidung
zwingen, ob wir Europäer oder Araber sind, Westler oder Orientalen, Gläubige oder
Ungläubige. Nach dem 11. September 2001 war ihnen das fast schon gelungen, als der Terror
mit Kriegen beantwortet wurde, mit Folter, mit der Aushöhlung des Rechtsstaats. Die
unweigerliche Folge waren noch mehr Gewalt und Gegengewalt, noch mehr Feindbilder und
noch mehr Haß, noch mehr Anschläge und zehntausende und hunderttausende weitere Tote.
Heute muß die Antwort auf den Terror eine andere, eine im besten Sinne aufklärerische sein:
Nicht weniger, sondern mehr Freiheit! Nicht Ausgrenzung, sondern gerade jetzt Gleichheit!
Und vor allem: Nicht Feindschaft, sondern Brüderlichkeit!
Und tatsächlich, liebe Mitbürger, liebe Freunde: Wir haben die Bilder der letzten Woche
gesehen, die Bilder der Kundgebungen am Sonntag in Paris und gestern abend in Berlin, in
Madrid und in London, sogar in Beirut und in Hebron, wir haben eine weltweite Trauer und
eine weltweite Solidarität erlebt. Charlie Hebdo ist heute in einer Auflage von drei Millionen
und gleichzeitig in beinah dreißig Ländern erschienen. Die große, die überwältigende
Mehrheit der Menschen hat über alle Grenzen der Konfession, Nation und Ethnie hinweg das
Gemeinsame über das Trennende gestellt. Nein, wir Europäer sind nicht alle einer Meinung.
Ja, wir haben unsere Konflikte, Unterschiede und Gegensätze. Und zugegeben: Nicht alle
möchten wir über Witze lachen, die zu Lasten einer Minderheit gehen, ob nun Juden in
Deutschland, Muslime in Frankreich oder sagen wir Christen in Iran. Vielleicht fühlen sich
manche von uns auch von den Karikaturen verletzt, die in Charlie Hebdo erschienen. Aber wir
sind uns einig – wir waren uns niemals einiger als in diesen Tagen -, daß wir diese Konflikte,
Unterschiede und Gegensätze auf unserem Kontinent nie mehr mit Gewalt austragen wollen.
Und so sehe ich auch heute abend in Köln auf diesen Platz, der einmal einer der dunkelsten
Orte unsrer Stadt war, vor den Türen des EL-DE-Hauses, einst Dienststelle der Gestapo und
Inbegriff eines nationalistischen Schreckensregimes, und ja, liebe Mitbürger, liebe Freunde,
ich freue mich, ich freue mich unbändig, denn ich sehe Euch alle zusammenstehen, ich sehe
Euch, egal, welcher Religion, Partei, Gewerkschaft Ihr auch angehört, welche Herkunft Ihr
habt, welche Hautfarbe, welches Geschlecht, ob Ihr schwarz seid oder weiß, ob Ihr schwul
seid oder lesbisch oder heterosexuell, ob Ihr politisch links steht oder rechts steht, ob Ihr rot
wählt oder schwarz oder grün oder gelb, ob Ihr arm seid oder reich, ob Ihr in Marienburg
wohnt oder in Mülheim, ob Ihr in die Oper oder lieber ins Millowitsch geht, ob Ihr an Gott
glaubt oder den FC oder wie ich an Gott und den FC – ich sehe Euch alle gemeinsam und
entschlossen im Gedenken an die Opfer von Paris vereinigt. Gemeinsam bekunden wir unsere
Trauer, gemeinsam bekunden wir unseren Abscheu, gemeinsam bekunden wir unser
Mitgefühl mit den Angehörigen der Opfer – aber entschlossen wehren wir uns auch gegen
diejenigen, die den Mord an siebzehn unschuldigen Menschen mißbrauchen, um gegen eine
einzelne Bevölkerungsgruppe zu hetzen. Wir wehren uns gegen die Le Pens in Frankreich und
gegen die Gaulands in Deutschland, wehren uns gegen Pegida und gegen Proköln, gegen
Salafisten und Rechtsradikale, gegen die Haßprediger in den Moscheen und die Haßprediger
in den Talkshows. Wir wehren uns gegen diejenigen, die sich als Retter des Abendlandes
aufspielen, aber alles verraten, was an diesem Abendland liebens- und lebenswert ist. Wir
wehren uns gegen diejenigen, die wegen ein paar Karikaturen wüten und nicht sehen, daß sie
es selbst sind, sie selbst!, die den Islam zur Karikatur seiner selbst machen.
Wir wehren uns, ja – und wir hätten uns schon viel früher wehren müssen. Denn die letzte
Woche hat nicht nur eine unglaubliche Solidarität gezeigt – sie hat uns auch alle daran
erinnert, daß Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit weder selbstverständlich noch kostenlos
sind, daß wir immer wieder neu für sie eintreten, für sie kämpfen und sie notfalls sogar mit
unserem Leben verteidigen müssen. Der Kampf gegen Unfreiheit und Gewalt findet nicht nur
in Kobane oder Aleppo statt, nicht nur am 11. September 2001 in New York oder am 7. Januar
2015 in Paris. Wir müssen für die Ideale der Gerechtigkeit, der Friedfertigkeit und der
Toleranz jeden Tag eintreten, im Alltag, im eigenen Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz oder in
der Schule, in den Parteien, Gewerkschaften, Vereinen oder religiösen Gemeinden, und auch –
das schätzen viele von uns leider zu gering – an den Wahlurnen, ganz besonders bei der
gemeinsamen europäischen Wahl. Die letzte Woche hat uns daran erinnert, daß Europa
zwischen Nationalisten hier und religiösen Extremisten dort zerrieben werden könnte, deren
Haß sich gegenseitig hochschaukelt. Sie hat uns an die Konflikte und Kriege erinnert, die
nicht in vergangenen Zeiten oder auf fernen Kontinenten, sondern direkt vor der europäischen
Haustür stattfinden. Nur zwei, drei Flugstunden entfernt sterben dort jeden Tag Dutzende,
Hunderte Menschen, und wenn sie nicht von Kugeln oder Bomben zerfetzt werden, dann
sterben sie auf der Flucht, ertrinken im Mittelmeer, jeden Tag Dutzende, Hunderte Menschen.
Wir sollten uns nicht heraushalten, und wir können es auch gar nicht, denn egal, was im
Nahen Osten geschieht, es wird uns betreffen, unsere Sicherheit, unseren Wohlstand und auch
unseren gesellschaftlichen Frieden. Wir haben dort über Jahrzehnte die blutigsten Diktaturen
unterstützt und uns sogar direkt am Sturz demokratischer, säkularer Regierungen beteiligt.
Wir sahen ziemlich tatenlos zu, wie den Palästinensern Siedlung um Siedlung ihr Land und
ihre Zukunft geraubt wurde. Vor allem aber haben wir – ja, ich sage wir, obwohl die meisten
von uns 2003 gegen den Irakkrieg protestiert haben, aber der Krieg wurde nun einmal von der
führenden westlichen Nation, im Namen der westlichen Wertegemeinschaft und auch von
deutschen Flughäfen aus geführt – vor allem haben wir Gesetzlosigkeit und Gewalt über ein
ganzes Land gebracht, als wir behaupteten oder vielleicht tatsächlich glaubten, die Iraker zu
befreien. Die Anschläge von Paris sind nicht zuletzt eine Folge dieses Krieges, der dem
Terrornetzwerk al-Kaida in unmittelbarer Nachbarschaft Europas ein Aufmarschgebiet
bescherte, auf das Osama bin Laden in seinen kühnsten Träumen nicht gehofft hätte.
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